Recht haben wollen
Wer bin ich, wenn ich nicht dagegen bin?
Ganz selbstverständlich sprechen wir von „Ich”. „Ich gehe spazieren”, „Ich will etwas essen.” „Ich bin Paarcoach.”
Unser Ich ist uns wichtig, denn es gibt uns das Gefühl zu existieren.
Aus purer Gewohnheit sind wir dabei geblieben: Als Kinder mussten wir lernen, uns in einer unbekannten Welt zurechtzufinden. Die Grenze zwischen eigenem Körper und Umwelt war fließend. Wir haben in ein Stück Brot gebissen: das war lecker. Wir haben dabei in die Hand gebissen: Au, das tat weh. So lernten wir Schritt für Schritt den Körper von der Umwelt zu differenzieren.
Später konnten wir uns weiter differenzieren. Mamas Gefühle sind nicht meine Gefühle. Papas Gedanken sind nicht meine Gedanken. Wenn alles halbwegs gut gegangen ist, entsteht ein weitgehend autonom funktionierendes Ich, mit dem wir uns weitgehend identifizieren, d.h. mit dem wir uns identisch wahrnehmen.
Jetzt kommt die Liebe ins Spiel. Verliebtsein, himmelhochjauchzend! Und Du bist mir viel wichtiger als ich. Ich mache, was Du willst oder was ich denke, dass Du es gerne hättest. Je nachdem wie lange diese Phase dauert, gibt es nach 2 Wochen, 2 Monaten oder 2 Jahren ein Erwachen.
„Du liebst mich nicht so, wie ich Dich!” So oder ähnlich heißt dann der ausgesprochene oder unausgesprochene Vorwurf. Es folgen Rückzug und Beleidigtsein oder Vorwurf und Respektlosigkeit. „So wie Du bist, will ich Dich nicht”, lautet die Haltung in der jetzt Beziehung gelebt wird. Und wir bestehen darauf, dass wir im Recht sind.
Recht haben ist der Überlebenskampf des Ichs in der Paarbeziehung. Es geht im andauernden Machtkampf von Partnerschaften nur um dieses eine: Recht behalten. In der Kindererziehung, in der Beurteilung des Partners, Recht auf Beleidigtsein, weil der andere sich falsch verhalten hat. Und wenn ich dem anderen vorwerfe, er wolle ja nur Recht haben, will ich es ja auch.
Der Ausweg ist leicht zu finden aber nicht einfach zu gehen. Das mühsam über Jahrzehnte gebaute Gebilde meiner Ich-Identität wird durch mein Gegenüber in Frage gestellt und stellt scheinbar mein Selbstwertgefühl in Frage. Solange ich daran festhalte, dass mein Ich absolut erhaltenswürdig ist, gibt es keine Lösung. Wer jedoch zurückschaut, z.B. 10 Jahre, wird bemerken, dass er anders ist als damals. Offensichtlich haben wir uns verändert, es geschieht eben einfach.
Mit einer einfachen Übung kann man sich dem Ausweg nähern. Die ausschließliche Identifikation mit dem Ich-Gedanken ist für erwachsene, reife Menschen hinderlich in der persönlichen Entwicklung. Daher kann man sich eines Tricks bedienen, um das Ich erkennen zu lassen, wie es sich selbst ins Abseits stellt.
Widerstand ist eine essenzielle Kernfunktion des Ichs. Daher kann man ihm die Aufgabe geben, einmal jeglichen Widerstand zu benennen: Schreiben Sie 100 Sätze auf, die alle mit „Ich will nicht, dass...” oder „Ich will kein...” beginnen.
Der Widerstand gegen das Leben wie es ist, ist eine absurde Inspirationsquelle für unsere Ich-Identität. Zunächst fällt Ihnen vielleicht das Materielle ein. Zustände, die anders sein sollten. Dann Verhaltensweisen und Eigenschaften anderer Menschen. Schließlich auch eigene Gewohnheiten und Unzulänglichkeiten. Und indem diese Bausteine der eigenen Identität einmal niedergeschrieben werden, werden sie ins Bewusstsein gehoben.
So werden die Bausteine meiner Identität sichtbar als etwas, das ich selbst erzeugt habe, und nicht als etwas, dem ich ausgeliefert bin.
Dasselbe gilt für die Paarbeziehung. Mein Erleben der Partnerschaft wird erzeugt und im Wesentlichen gefärbt durch das Maß an Widerstand, das ich meinem Partner gegenüber aufrecht erhalte. Mein Selbstwertgefühl gewinne ich in dem Maß zurück, in dem ich mein Recht haben wollen der Verbundenheit mit dem Partner nachordnen kann.
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