Verlässlichkeit

Die Sehnsucht nach Hingabe in der Partnerschaft

„Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.“ Heraklit „Wer bist Du“, lautet die Frage, die jede Frau ihrem Mann, ausgesprochen und...

„Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.“ Heraklit

„Wer bist Du“, lautet die Frage, die jede Frau ihrem Mann, ausgesprochen und unausgesprochen, unablässig stellt und darauf mehr als eine Berufsbezeichnung zur Antwort haben möchte. Sie stellt diese Frage nicht um ihn zu demütigen, sondern um seine Kraft, seine Essenz, sein Wesen zum Vorschein zu bringen. Die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen drehen sich letztlich darum, dass sie wissen will, ob sie sich auf ihn verlassen. Stimmen Gefühl, Wort und Tat überein, ist sie bei ihm sicher und kann sich tiefer in ihre weibliche Essenz hinein entspannen.

„Erkenne Dich selbst“, ist die Aufforderung, die in der Frage „Wer bist du?“ versteckt ist. „Erkenne dich selbst“ – so lautete die Inschrift zum apollinischen Tempel von Delphi. Dem Mythos zufolge bestimmte Zeus den Mittelpunkt der Welt, indem er zwei Adler von je einem Ende der Welt her fliegen ließ, die sich dann in Delphi trafen. Die Aufforderung „Erkenne dich selbst” verbunden mit der Verortung als Mitte der Welt, lässt sich Delphi für den heutigen Gebrauch als Schnittstelle zwischen Innenwelt und Außenwelt, Psyche und Physis verstehen. Wer erkenntnisreiches Fühlen mit achtsamer Handlung in Übereinstimmung bringt, hat sich selbst erkannt.

Für viele Frauen ist es ein gut verborgener Wunsch, sich in der Beziehung mit ihrem Mann vollkommen in die Liebe hinein entspannen zu können. Die Voraussetzung für diesen entspannten Zustand ist tiefes Vertrauen zu ihrem Mann. Wenn der Mann versäumt, sein Fühlen und Handeln in Übereinstimmung zu bringen, wird sie ihm nicht trauen und früher oder später gehen: je nach Naturell in eine Depression, in Zank und Streit, in passiven Widerstand oder eben aus der Paarbeziehung heraus. Sie weiß möglicherweise nicht, warum sie so handelt, aber das zugrunde liegende Gefühl ist die Enttäuschung darüber, mit ihrem tief empfundenen Bedürfnis nach seiner Präsenz nicht wahrgenommen worden zu sein.

Es liegt in der Verantwortung der Männer, sich für ihre Partnerin verlässlich zu machen. Verlässlichkeit wird oft missverstanden und mit materieller Versorgung gleichgesetzt. Genauso wenig ist damit gemeint, ihr alles recht zu machen. Es geht um die Kongruenz des eigenen Wertesystems mit den eigenen Handlungen; mit der richtigen Hand auszuführen, was die intuitive Hirnhälfte erspürt hat. In den meisten Fällen kann ein Mann seiner Partnerin auf diese Weise erhebliche Unterstützung bei der Rückgewinnung des grundlegenden Vertrauens leisten.

Gelingt es ihm, ihr Vertrauen zu vertiefen, sich in die Beziehung zu entspannen, wird der Fluss ihrer Zuneigung zu ihm größer. An einem bestimmten Punkt kann ihm das sogar unheimlich werden. Sie schaut ihn voller Liebe an, sieht nur ihn, schmilzt förmlich dahin und er steht davor und denkt: „Oh Gott, wie komme ich hier weg?“ Wenn sie ihm ihre Liebe in solcher Hingabe entgegenbringt, spült sie damit jede Struktur fort, die er sich gegeben hat, was sich für ihn wie Sterben anfühlt. Wird er sich erlauben, in ihre Liebe hinein zu sterben? Viele Frauen kennen diesen Moment – jetzt ist für einen Moment alles da, er braucht nur zuzugreifen – doch was tut er? Er weicht zurück und vergibt die Chance das zu empfangen, wonach er sich am meisten verzehrt. Bedingungslose Zustimmung.

Im Ablauf eines Orakelbesuches wird der Verlauf der Selbsterkenntnis symbolisch dargestellt. Beginnend mit Zweifeln, was als nächstes zu tun ist, begibt sich der Initiand auf den Weg zum Orakel. Er muss sein gewohntes Umfeld hinter sich lassen, in dem er weiß, wer er ist und wie er zu agieren hat. Doch weiblich assoziierte Intuition wird jetzt wichtiger sein als der männlich assoziierte rationale Verstand.

Was hat er gewonnen, wenn er wieder draußen ist? Er erkennt möglicherweise, dass nicht die ganze Welt nach dem männlichen Prinzip gestrickt ist, in dem Alles in schwarz und weiß, richtig und falsch eingeteilt wird. Er muss seinen Tunnelblick aufgeben und die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit anerkennen. Er beginnt, seine eigenen Handlungen als Teil eines endlosen Netzes zu betrachten, anstatt sich für den Mittelpunkt des Universums zu halten. Er wird Menschen vorsichtiger beurteilen und mehr darauf achten, welche verborgenen Zeichen er erkennen kann. Er stimmt der Welt zu, wie sie ist, und findet den Platz, an dem er seinen Beitrag leisten kann. Kurz: Er beginnt ein weiser Mann zu werden.

In den Worten von Lee Lozowick (1943-2010), einem Lehrer der bengalischen Baul-Tradition: „Damit ein Mann ein richtiger Mann wird, muss er das Bedürfnis nach Kontrolle und die Tendenz zur Härte aufgeben – keine Konkurrenz und keine Gewalt. In dieser Weichheit liegt die eigentliche Kraft.“

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