Midlife Crisis meistern

Sein ungelebtes Leben leben

Foto: Twid Im Alter zwischen 35 und 50 Jahren wird den meisten Menschen klar, dass seit dem Beginn ihres Lebens mindestens so viel Zeit vergangen ist, wie ihnen noch verbleibt. Die...

Foto: Twid

Im Alter zwischen 35 und 50 Jahren wird den meisten Menschen klar, dass seit dem Beginn ihres Lebens mindestens so viel Zeit vergangen ist, wie ihnen noch verbleibt. Die Midlife Crisis rückt näher. Das gilt natürlich nur, sofern es ihnen nicht so geht, wie einem Klienten von mir, der auf die Frage, welches Alter er vermutlich erreichen würde, antwortete: „103.“

Ein von mir hoch geschätzter Autor ist Robert A. Johnson, einer der letzten noch lebenden Schüler von Carl Gustav Jung. Johnson hat eine Vielzahl von Büchern geschrieben , in denen er Mythen und Märchen als zeitlose Grundmuster der psychischen Entwicklung des Menschen untersucht. Nur wenige seiner Bücher sind auf Deutsch erschienen, aber wer des Englischen mächtig ist findet hier einen reichen Schatz bei der Beschäftigung mit Johnsons brillianten Einsichten.

„Living Your Unlived Life“ beschäftigt sich mit dem, was wir gemeinhin als Midlife-Crisis bezeichnen. Johnson hat dieses Buch gemeinsam mit seinem Kollegen Jerry M. Ruhl geschrieben. Ein Gedanke hat mich besonders gefreut, weil er sich mit dem deckt, was auch meine Beobachtung ist: „Much of what remains undeveloped in us, psychologically speaking, is excluded because it is too good to bear.“

Das heißt, die Beschäftigung mit dem Unbewussten wird vor allem verweigert, weil darin eine Größe und Bedeutung verborgen ist, die sich mit unserem kleinen Bild von uns selbst nicht verträgt. Das ist schon an anderer Stelle gesagt worden, wie beispielsweise in folgendem berühmten Zitat, das fälschlicherweise häufig Nelson Mandelas zugeschrieben wird, da er es in seiner Antrittsrede als Präsident Südafrikas verwendet hat. Urheberin ist jedoch Marianne Williamson in ihrem 1992 erschienenen Buch Return to Love.

„Our deepest fear is not that we are inadequate. Our deepest fear is that we are powerful beyond measure. It is our light, not our darkness, that most frightens us. We ask ourselves, who am I to be brilliant, gorgeous, talented, and fabulous? Actually, who are you not to be? [...] As we are liberated from our own fear, our presence automatically liberates others.”

Einer der Grundgedanken in „Living Your Unlived Life“ ist die Feststellung, dass wir in der Mitte unseres Lebens die Wahl haben. Wollen wir uns weiter damit beschäftigen, etwas aufzubauen und zu etablieren, das wir am Ende unseres Lebens ohnehin wieder abgeben müssen? Oder beschäftigen wir uns mit dem Hintergrund, aus dem heraus dieses Ich entsteht?

Eine häufig bemühte Analogie ist die des Filmprojektors. Lasse ich mich von den bunten Bildern auf der Leinwand faszinieren oder wende ich meine Aufmerksamkeit der Quelle zu, die offensichtlich ohne zu ermüden ständig neue Bilder und Projektionen hervorbringen kann. Was ist das für eine Maschinerie und wie funktioniert sie? Gibt es möglicherweise einen Weg das zu verändern, was sie hervorbringt? Vielleicht gibt es sogar eine Möglichkeit, sie für einen Moment zum Stillstand zu bringen und einen Blick auf den ganzen Kinosaal zu erhaschen...?

Es ist nicht mein Ziel, das immer wieder diskreditierte Ego abzuschaffen. Im Gegenteil: das Ego – ich nenne es lieber das kleine Ich – bemüht sich seit Beginn unseres Lebens unsere Erfahrungen einzuordnen und daraus Schlüsse zu ziehen, die ein möglichst sicheres Leben gewährleisten. Das ist eine ehrenwerte Tätigkeit und verdient keine Schelte.

Allerdings funktioniert es immer nur zurückschauend. Es verarbeitet Vorkommnisse, die bereits Vergangenheit sind, und versucht daraus sinnvolle Verhaltensweisen für die Zukunft abzuleiten. Aufgrund der Funktionsweise unseres Gehirns werden darüberhinaus einmal benutzte neuronale Bahnen tendenziell wieder verwendet und auf diese Weise entstehen Verhaltensmuster, mit denen wir unser Leben zu bewältigen versuchen.

Diese Bewältigungsstrategien werden später häufig recht unabhängig davon eingesetzt, ob sie funktionieren oder nicht. Sie werden einfach gar nicht mehr in Frage gestellt. Genau das ist der Grund, weshalb zwischenmenschliche Beziehungen häufig scheitern, da zwei Menschen zusammentreffen, die auf intern festgelegte Weise zu kommunizieren versuchen und dabei nicht ausreichend im Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment, mit den Notwendigkeiten der Situation um mit der Freiheit ihrer Intuition sind.

Wir wollen das kleine Ich also nicht abschaffen, sondern ihm lediglich einen angemessenen Platz zuweisen. Dieser Platz heißt Funktionalität im Alltag. Es soll uns helfen, den Alltag sortiert und bewältigt zu bekommen. Es soll zurücktreten zu Gunsten von Intuition und Weisheit, in Situationen, in denen Routine eher schädlich ist. Zu solchen Situationen gehören die Kommunikation zwischen Partnern genauso wie die Entscheidungen, die zu treffen sind, welche Inhalte wir unserer zweiten Lebenshälfte zuordnen wollen.

Ein großer Übergang steht an bei der Neuorientierung in der Lebensmitte. Es ist der Übergang vom Tun zum Sein. Gelingt es uns vom Aufbau, Ausbau und Erhalt des kleinen Ich in das Ruhen im Großen Selbst zu wechseln? Viele Menschen, mit denen ich spreche, wünschen sich nichts mehr als Gelassenheit, Großzügigkeit und ein Gefühl von innerem Frieden. Aber sie lassen sich selbst nicht in Ruhe und geben ihrem Geist keine Chance (das bedeutet keine Gelegenheit, keine Zeit und zu wenig freundliche Aufmerksamkeit) um sich soweit zu entspannen, dass sie in Fühlung kommen mit der Weite ihres Seins.

Wir müssen uns fragen, was uns daran hindert, in unsere wahre Größe hineinzuwachsen. Was haben wir davon, wenn wir am Klein-Klein festhalten? Wozu dient es sich im alltäglichen Hickhack zu verfangen? Wollen wir unsere eigene Größe vielleicht auch deshalb nicht anerkennen, weil es Konsequenzen von uns fordern würde?

Wir könnten nicht weitermachen wie bisher, wenn wir unsere Einsichten ins Bewusstsein holen würden. Einsicht und Anerkennen der eigenen Größe führen zu Verantwortung. Wir müssten Verantwortung für uns selbst übernehmen und für die Folgen allen unseren Handelns. Wir müssten den Schmerz bereuen, den wir anderen zugefügt haben. Wie viel leichter ist es, andere zu beschuldigen, dem Partner Vorwürfe zu machen, kurz: ein Opfer zu bleiben. Die Opferhaltung (und wir sind in der Opferhaltung, sobald wir einen anderen beschuldigen, egal wie berechtigt die Beschuldigung zu sein scheint) ist ein Aufrechterhalten von Unreife und Nicht-Erwachsen-Handeln.

[figure class="c-figure c-figure--left" caption="Neuronen-Struktur"]Neuronen-Struktur[/figure]

„To good to bear“ schreiben Johnson und Ruhl, „Your playing small doesn’t serve the world“, schreibt Marianne Williamson. Großartigkeit wird nicht erlangt, indem wir immer mehr besitzen, kontrollieren oder beeinflussen. Sicherheit lässt sich nur scheinbar gewinnen, wie es die Vorkommnisse in Japan gerade wieder ganz deutlich werden lassen. Menschliche Größe ist dort zu finden und wird auch dort bewundert, wo es gelingt Angst durch Vertrauen zu ersetzen, Neid durch Mitgefühl aufzulösen, Engstirnigkeit zu Gunsten von Inspiration zu verlassen.

Wie sieht Ihre zweite Lebenshälfte aus, wenn es Ihnen gelingt automatische Reaktionsmuster sowie mittlerweile unpassende, vor langer Zeit festgelegte Denkstrukturen aufzulösen? Was passiert, wenn Sie stattdessen beginnen, aus dem großen Selbst heraus zu agieren, dessen zentrale Qualitäten Vertrauen, Mitgefühl und unerschöpfliche Intuition sind? Was würden Sie bewirken...? Für wen oder was würden Sie sich einsetzen...? Was würden anderen über Sie sagen...?

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