Die sechs Stufen einer reifenden Paarbeziehung
Emotionale Autonomie, sexuelle Identität und polare Kommunikation
In den letzten Monaten habe ich daran gearbeitet, funktionierende Kommunikation in einem ganzheitliches Entwicklungssystem zu verorten, das zu einer dauerhaften und bereichernden Partnerschaft führt. Die funktionierende Kommunikation ist in diesem System erst die dritte von insgesamt sechs Stufen. Ein Training der Paarkommunikation muss demnach scheitern, wo die Notwendigkeit der Arbeit der ersten beiden Stufen nicht erkannt und entsprechend eingefordert wird.
Bevor ich diese sechs Stufen beschreibe, möchte ich klarstellen, dass es nicht um Perfektion auf jeder Ebene geht, sondern darum eine gewisse Grundausstattung zur Verfügung zu haben. Wenn wir als Kinder laufen lernen, besteht nicht die Notwendigkeit später ein Marathonläufer oder 100 m Sprinter werden. Wenn das Kind jedoch überhaupt nicht laufen lernt, wird es erhebliche Schwierigkeiten im Leben haben.
1. Emotionale Autonomie
Die Grundlagen der emotionalen Autonomie werden in den ersten drei Lebensjahren gesetzt. Das Baby wird zum Kleinkind und entwickelt sich Schritt für Schritt aus der symbiotischen Mutterbeziehung heraus. Diese Entwicklung ist weitgehend abgeschlossen, wenn das Kind im dritten Lebensjahr „Ich“ und „Du“ klar unterscheiden kann und mit „Ja“ und „Nein“ Zustimmung und Verweigerung zu den Vorschlägen seiner Umgebung signalisieren kann.
Erst allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass Eltern in dieser Phase der Autonomie-Entwicklung dicke Patzer machen können. Die Hochphase der Autonomie-Entwicklung wird immer noch von vielen Eltern als Trotzphase diskreditiert. Es gibt zwei wesentliche Bereiche der Störung der Autonomie-Entwicklung: Übergriffigkeit oder Kontaktentzug.
Übergriffigkeit bedeutet, dass Kinder entweder über die Maßen gesteuert und manipuliert werden, oder durch körperliche und/oder mentale Auseinandersetzungen gedemütigt. Manipulative und demütigende Vorgehensweisen machen es dem kindlichen Geist unmöglich, seine Unabhängigkeit zu manifestieren. Dies entspricht einer Invasion des kindlichen Seelenlebens und führt zu einer Störung und mitunter zum Abbruch der Autonomie-Entwicklung. Die Seele bleibt unreif. Kompensatorisches Verhalten können Dauerdiskussionen sein, Unehrlichkeit und das Vermeiden von Auseinandersetzungen oder auch heftiger Zorn und Verweigerung der Kooperation.
Liebesentzug oder Kontaktentzug ist eine weitere weit verbreitete Manifestation elterlicher Unfähigkeit im Umgang mit der Ich-Entwicklung ihrer Kinder. Dies kommt einer Vernachlässigung oder einem Verlassen-Werden gleich und schädigt die Autonomieentwicklung durch den Entzug von Vertrauen, Sicherheit und Halt. Das daraus entwickelte Kompensationsverhalten, enthält oft übermäßige Bedürftigkeit, symbiotische Verhaltensweisen und Unsicherheit in Konfliktsituationen.
Wer als Kind nur eine brüchige emotionale Autonomie hat entwickeln können, wird später leicht in die Angst vor dem Verlassen-Werden oder den Kampf gegen Manipulation zurückfallen und entsprechend kindhaft reagieren. Insbesondere in Situationen die auf emotionaler Ebene herausfordernd sind, handeln erwachsene Menschen dann von einem Moment auf den anderen wie Dreijährige. Doch muss man sich die Frage stellen, ob im Alter von 30 oder 40 dafür immer noch die Eltern, der Partner oder nicht vielleicht doch man selbst zuständig ist.
2. Sexuelle Identität
Ab dem dritten Lebensjahr beginnt sich die Aufmerksamkeit für die Unterschiedlichkeit von Geschlechtern zu entwickeln. Kinder stellen fest, dass es zwei Geschlechter gibt und sie nur dem einen angehören. Es entsteht eine Wahrnehmung von: „Dies bin ich“ und: „Das bin ich nicht“.
Daraus entsteht eine Spannung, die Neugier und Interesse weckt. Der wesentliche Punkt, um den es hier geht, ist die Notwendigkeit einer stabilen Ich-Entwicklung, die dieser geschlechtlichen Selbstwahrnehmung vorausgeht, damit wir es überhaupt aushalten, dass ein anderer Mensch ganz anders sein kann. Nur wenn wir es aushalten, dass der andere anders ist, darf er für uns auch anders sein. Ansonsten tendieren wir dazu, seine Andersartigkeit zu bekämpfen, weil sie immer wieder unsere eigene Identität infrage zu stellen scheint.
Mit der Pubertät vollzieht sich ein weiterer wesentlicher Schritt der Entwicklung sexueller Identität. In dieser Zeit sind wir besonders anfällig für die Beschämung und Verunglimpfung unserer sexuellen Identität. Gesellschaftlich ist es nicht mehr besonders schick, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hervorzuheben und doch ist gerade in diesem Alter das Bedürfnis groß, von Älteren des eigenen Geschlechts anerkannt zu werden.
Aufgrund unzureichender Berücksichtigung der Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Initiationen, bleibt die Etablierung der geschlechtlichen Souveränität über weite Strecken lückenhaft. Dies gilt ganz besonders für junge Männern. Aufgrund des Mangels einer tief gefühlten Männlichkeit bzw. Weiblichkeit verwenden wir Ersatz-Identitäten, die durch die Unterhaltungsmedien zur Verfügung gestellt werden. Machos und Prinzessinnen machen Hochzeit. Katastrophe programmiert.
Bleibt geschlechtliche Polarisierung ganz aus, dann werden aus Mann und Frau bestenfalls gute Freunde. Ohne polare Attraktivität gibt es keine kreative Spannung und das Potential bleibt ungenutzt. Wir langweilen uns miteinander, weil der Andere nicht anders genug ist. Wenn Mann-Sein und Frau-Sein mit Stolz und Würde erlebt wird, wird der Austausch belebend.
3. Polare Kommunikation
Haben wir diese Stufe erreicht, stehen uns idealerweise bereits ein gefestigtes Selbstwertgefühl und eine kraftvolle sexuelle Identität zur Verfügung. Wir haben innere Stabilität – einen Standort, eine Zugehörigkeit – und gleichzeitig den Wunsch, „das Andere“ kennen zu lernen und unsere Erfahrungen dadurch zu bereichern. Doch bei weitem nicht immer, wenn wir Kommunikation auf dieser Ebene versuchen, ist das zugrundeliegende Fundament tragfähig.
Aus diesem Zusammenhang wird nun klar, warum Paarkommunikation so häufig nicht gelingt. Wenn der andere einen anderen Standpunkt einnimmt, fühlen wir uns in unserer geschlechtlichen Identität oder sogar in unserer Existenz infrage gestellt.
Anders herum gesagt: Ist unser Selbstwertgefühl schwach, ertragen wir den Partner nicht in seiner Stärke. Ist die Zustimmung zum eigenen Geschlecht nicht ausreichend entwickelt, dann tendieren wir in Auseinandersetzungen dazu, dem anderen seine Identität nicht zu gönnen. Ein mangelndes Selbstwertgefühl kann sich dann in trotzigen oder beleidigten Zuständen äußern, sobald sich der Partner unabhängig zeigt. Eine geschwächte sexuelle Identität kann dazu tendieren, Qualitäten des anderen zu diskreditieren, die eng mit seiner geschlechtlichen Identität verbunden sind.
Eine weitere wichtige Beobachtung ist es, dass wir nie davon ausgehen können, das der Andere uns „von Natur“ aus versteht. Es trifft eher das Gegenteil zu. „Von Natur aus“ ist der andere erst einmal anders und versteht nicht, wie wir die Dinge verstehen. Ausgiebiger Austausch von Selbstportraits ist an dieser Stelle notwendig (und auch lustvoll), damit die Grundlage für den weiteren Verlauf der Paarbeziehung steht.
Die nächsten Stufen „Kreative Vereinigung“, „Gleichmut und Kontinuität“ sowie „Die Einheit der Zwei“ werden wir in Teil 2 betrachten.
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