Staunen

Erfahrung ist mehr als Verstehen

Der Sommer nähert sich dem Ende. Beim Morgenspaziergang entdecke ich unzählige Spinnennetze auf der Wiese, vom Tau befeuchtet. Altweibersommer. Der Sonnenschein fehlt. Gestern war...

Der Sommer nähert sich dem Ende. Beim Morgenspaziergang entdecke ich unzählige Spinnennetze auf der Wiese, vom Tau befeuchtet. Altweibersommer. Der Sonnenschein fehlt.

Gestern war es noch sonnig und die Kinder haben draußen Naturforscher gespielt. Sie haben ein Terrarium gebaut. Zweige mit bunten Blättern und roten Beeren, Moos und Gras, es sieht sehr gemütlich aus.

Dann zogen die beiden achtjährigen Naturfreunde aus, um Spinnen für ihr Terrarium zu sammeln. Keinerlei Berührungsängste plagten sie. Kleine und große Spinnen wurden eingesammelt, ihre Farben zur Kenntnis genommen und alle liebevoll in ihr neues Zuhause eingebettet.

Wann haben wir aufgehört zu staunen?

Die beiden kleinen Forscher ziehen noch keine Grenze zwischen ihrer Beobachtung und den Gefühlen während ihrer Tätigkeit. Sie erleben, untersuchen und begreifen die Welt in einer Weise, die dem vernunftgesteuerten Erwachsenen verloren gegangen ist. Voll und ganz in ihrem Tun aufgehend, verbinden sie sich mit der Spinne genauso wie mit dem Moospolster und der Sonne auf ihrem Rücken.

In ein oder zwei Jahren wird sich das ändern. Der rationale Geist wird stärker und ordnet Beobachtungen in Raster ein. An und für sich ist das eine gesunde Entwicklung, sofern wir dem staunenden Begreifen der Welt in der Kindheit genügend Platz einräumen.

Neulich hörte ich ein Gespräch zwischen zwei ähnlich alten Kindern. Das Mädchen erzählte von einem Sonnenuntergang, den es am Abend zuvor bestaunt hatte. Das sei doch nichts Besonderes, erwiderte der Junge. Auf YouTube hätte er schon viel schönere Sonnenuntergänge gesehen. „Und viel mehr, sowieso.”

Verführt vom medialen Konsum, kann schon das Kind nicht mehr unterscheiden zwischen der realen Erfahrung, die mit allen Sinnen stattfindet, und der medialen Konserve, die lediglich eine Oberfläche abbildet. Die Tiefe der Erfahrung, dass staunende Erleben wird immer früher unterbrochen – Tablets in Kindergärten sind nicht kindgerecht. Kinder sollten nicht bloß Beobachter eines Films sein, an dem sie weder physisch noch emotional beteiligt sind.

„Wir nehmen unseren Kindern die Möglichkeit sich selbst als Innenraum zu erfahren.”

Rationalität und Tablets haben im Kindergarten eine disruptive Wirkung auf die Entwicklung kindlicher Integrität.

Das Staunen verbindet uns mit der Welt

Staunen beinhaltet die Fähigkeit sich mit der körperlichen Komponente einer Wahrnehmung zu verbinden. Es enthält auch die emotionale Reaktion auf das Unerwartete in der Begegnung mit der Welt. Abgeklärtes: „Kenn ich schon von YouTube” ist eine Lüge. Man hat das Bild gesehen, aber nicht die Erfahrung gemacht. Der Finger der zum Mond zeigt ist nicht der Mond.

„Ohne Staunen wird das Erleben eindimenional. Was nutzt das Ereignis, wenn man es nur weiß?”

Staunen bringt uns in eine Intimität mit der Welt, die dem reinen Denken unheimlich ist. Berührbarkeit wird vermieden, weil sie auch Verletzlichkeit mit sich bringt. Wenn wir allerdings uns vor jeglicher Verletzlichkeit schützen, das Herz verschließen, gegenüber dem, was das Leben uns bietet, schneiden wir gleichzeitig auch das Gefühl der Verbundenheit ab. Das macht einsam, missmutig und lässt daran zweifeln, dass in diesem Leben irgendetwas Schönes existiert, das mich erreichen könnte.

Kann man staunen lernen?

Es hat möglicherweise mit Geschwindigkeit zu tun. Für die beiden Naturforscher war es keine Schwierigkeit, den ganzen Nachmittag im Garten zu verbringen. Sie hatten keinerlei Zeitdruck, keinen Plan, kein Soll zu erfüllen. Würden wir unseren Alltag entschleunigen, gäbe es mehr Raum zum Staunen. Ich nenne es die „Disziplin der Pause“.

Um eine stärkere Verbundenheit mit unserer Umgebung zu fühlen, müssen wir mit Disziplin den denkenden Geist in die zweite Reihe zwingen. Wir können ihn nicht abschalten, er hat seine Aufgaben und diese sind zu würdigen. Er drängelt jedoch fast immer vor, hält sich für die einzig existierende Instanz von Bedeutung und wenn wir ihm Glauben schenken, verläuft unser Leben ohne wirkliche Intimität.

Bereitschaft zum Nicht-Wissen ist die Haltung, die zur Intimität führt. Sich der reinen Wahrnehmung und Beobachtung stellend, ohne sie gedanklich sofort einzuordnen. Eher darauf achtend, was das Herz bei dem empfindet, was uns begegnet, als dem Verstand zuzuhören, wie er es bewertet. In dieser Nicht-Bewertung liegt die Begegnung, die Berührung, das Staunen. Und damit einher geht ein zartes Gefühl der Freude am Leben.

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