Mitgefühl

Von gutem Willen und Berührbarkeit

Die vier Formen des Mitgefühls Einer modernen Legende nach wird über die Inuit gesagt, sie hätten über 40 Worte für Schnee. Im Sanskrit soll es mehr als zehn Wörter für Liebe...

Die vier Formen des Mitgefühls

Einer modernen Legende nach wird über die Inuit gesagt, sie hätten über 40 Worte für Schnee. Im Sanskrit soll es mehr als zehn Wörter für Liebe geben. Befasst man sich mit einem Thema intensiver, entsteht jedenfalls der Bedarf nach differenzierter Beschreibung.

Ebenfalls im Sanskrit, der alten indischen Sprache, in der viele wichtige spirituelle Texte abgefasst wurden, gibt es unterschiedliche Worte für das, was wir als Mitgefühl zusammenfassen.

Unsere Lebensweise scheint manchmal selbst dieses letzte Wort nicht besonders ernst zu nehmen. Schauen wir auf Umwelt-, Natur-, und Tierschutz, haben wir als Gesellschaft recht wenig Mitgefühl mit den anderen Lebewesen. Wir betrachten sie als Nutztiere, produzieren aus Lebensmitteln Brennstoff für unsere Autos und vergiften systematisch Boden, Wasser und Luft.

Metta — Gute Absichten

Gute Absichten sind das Einstiegsstadium für Mitgefühl. Wir machen uns bewusst nicht allein zu sein, sondern in einen Kontext zu leben. Im täglichen Tun wird versucht, den Kontext zu berücksichtigen.

Gewöhnlich beginnen wir im Kindergarten etwas über Kontexte zu erfahren. Auseinandersetzungen werden geschlichtet. Den Aufforderungen wieder Frieden zu schließen wird zunächst widerwillig Folge geleistet. Aber dann wird die Erfahrung gemacht, dass auf diese Weise die Beziehung wiederhergestellt wird.

Mit guten Absichten…

Karuna — Berührbarkeit

Anderen und der Welt mit offenem Herzen zu begegnen fällt schwer, wenn negative Gedanken über uns selbst oder andere dazwischen kommen. Offenheit und Berührbarkeit setzen voraus, Negativität in sich selbst klären zu können. Wir müssen uns zumindest selbst aushalten können, ohne die Negativität über andere auszugießen.

Berührbar zu sein bedeutet, in Auseinandersetzungen nicht ums Recht haben zu kämpfen. Es geht nicht darum stärker zu sein, sondern mit den Gefühlen umzugehen, die die Begegnung mit dem Anderen auslösen. Sei es Wut, Angst oder Trauer — alles Gefühle, die wir gewöhnlich nicht gerne fühlen.

Die Bereitschaft, das durch die Begegnung ausgelöste Gefühl anzunehmen, ohne dem anderen die Schuld dafür zu geben („Du machst mich wütend“), ist die zweite Stufe des Mitgefühls.

Mudita — Zufriedenheit

Wenn es gelingt, die Berührbarkeit immer weiter zu vertiefen und nicht mehr in den üblichen Freude-Schmerz-Schleifen des Alltagslebens hängen zu bleiben, verschwindet allmählich die Abhängigkeit von dramatischen Gefühlen.

Wir haben eine abstruse Art uns lebendiger zu fühlen, wenn Drama in unserem Leben stattfindet. Die Abwesenheit von Drama (sprich: nicht einverstanden sein, mit dem was ist), erscheint nicht als erstrebenswerter Zustand.

Dabei könnte sich an einem Tag, an dem es uns gelingt keinerlei Dramen zu aktivieren, eine empathische Zufriedenheit einstellen, die von der Freude am Leben gespeist ist. Diese Freude ist dann der Ausgangspunkt dafür, auf Andere zuzugehen, sie ins Herz zu schließen, ihnen Gutes tun.

Upekkha — Gleichmut

Als tiefste Form des Mitgefühls könnte man die Fähigkeit bezeichnen, bei jeder Provokation unerschütterlich zu bleiben. Geduldig bleiben mit den Menschen, die uns verletzen wollen. Frei vom Wunsch nach Revanche, in dem häufig das Recht haben wollen aufblitzt. Großzügige, andauernde Vergebung.

Sicherlich ein Ideal, aber in meinen Augen ein erstrebenswertes, gerade wenn man die Entwicklung durch diese vier Stufen anschaut. Denn es beginnt mit uns selbst: Immer mehr Frieden im eigenen Herzen. Immer mehr Einverstandensein mit sich selbst und aus diesem Einverständnis heraus einverstanden mit anderen. Durch die Übung von gutem Willen und Berührbarkeit kann sich allmählich glückliche Zufriedenheit und unerschütterlicher Gleichmut entwickeln.

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