Gelassenheit

Das wichtigste Ereignis im Leben eines Menschen

Leseprobe aus Gregory Campbell/Henning Matthaei: Gelassenheit. Die Hohe Kunst des Lebens und des Sterbens „Jesus sprach: Habt ihr denn den Anfang entdeckt, daß ihr das Ende sucht?...

Leseprobe aus Gregory Campbell/Henning Matthaei: Gelassenheit. Die Hohe Kunst des Lebens und des Sterbens

„Jesus sprach: Habt ihr denn den Anfang entdeckt, daß ihr das Ende sucht? Denn wo der Anfang ist, dort wird auch das Ende sein. Selig, wer seinen Platz im Anfang behält, er wird das Ende kennen und den Tod nicht erfahren.“

Thomas-Evangelium

Wir leben in einer Gesellschaft, die wenig oder gar keinen Wert auf die größte Initiation legt, die uns Menschen gegeben ist: die Möglichkeit eines bewußten Todes. Nach traditionellem christlichen Glauben werden am Ende aller Zeiten die Toten auferstehen, um vor den göttlichen Richter gestellt zu werden. In diesem Jüngsten Gericht wird dann endgültig entschieden, welche Seelen für immer der Verdammnis anheim fallen und welche leiblich auferstehen und das ewige Leben genießen dürfen. Mit der im Mittelalter begonnenen und seit dem 16. Jahrhundert sich immer mehr entwickelnden Anerkennung des Menschen als Individuum entstand auch ein neuer Blick auf das Sterben. Dabei stellte sich die Frage, was das einzelne Individuum in der Zeit zwischen dem individuellen Tod und dem Jüngsten Gericht erleben würde. In unterschiedlichen Modellen wurde von mehreren Kirchenvätern die Idee des sogenannten Partikulargerichtes entwickelt. Dieses unterscheidet sich vom Jüngsten Gericht dadurch, daß es direkt nach dem Tod eines jeden Individuums und nicht erst am Jüngsten Tag stattfindet. Es handelt sich hierbei um Gottes Gericht über die individuelle Seele, das im Gegensatz zum Jüngsten Gericht nicht mit der Auferstehung des Leibes verbunden ist. Hier wurde lediglich über den Verbleib der jeweiligen Seele bis zum Jüngsten Gericht entschieden, welches dann die gesamte Menschheit betrifft.

Im Zuge der Individualisierung des Sterbens entwickelte sich eine Kunstform, die sich großer Beliebtheit erfreute. Aufgrund der kostengünstigen Druckmöglichkeit, die der Holzschnitt zur Verfügung stellte, kursierten viele Sammlungen der sogenannten ars bene moriendi. Die Kunst des guten Sterbens war gleichzeitig eine Art Anleitung für ein gutes Leben. Zwar war sie durchzogen von christlichen Moralvorstellungen der Zeit, von deren Einhaltung man sich eine günstige Bewertung vor den Gottesgerichten erhoffte. Aber es zeigt sich doch das Bewußtsein dafür, daß die intensive Auseinandersetzung mit dem Tod zu Lebzeiten eine veränderte Sicht auf das Leben bewirkt.

Memento mori - „Erinnere Dich an Deine Sterblichkeit!“ Dieser Satz des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit fand auch in Totenschädeln auf den Schreibtischen der Gelehrten seinen Ausdruck. Er legte nahe, sich schon zu Lebzeiten Gedanken darüber zu machen, in welcher Verfassung man sterben wollte. Die Schlüsse, die wir heute aus der Unausweichlichkeit unseres eigenen physischen Todes ziehen müssen, können zwar nicht identisch mit der Theologie des 16. Jahrhunderts sein. Dennoch kommt auch ein moderner Mensch nicht daran vorbei, sich darüber klar zu werden, in welchem Geisteszustand er sterben möchte und was er tun kann, um diesen Zustand zu erlangen. Das Ziel bleibt damit das gleiche, auch wenn der Weg ein anderer ist. Eine gesunde Wiederbelebung dieser Tradition des memento mori ist die Grundlage für das Überleben der menschlichen Familie. Im 16. Jahrhundert war im Angesicht von Pest, Cholera und anderen Krankheiten ein früher Tod wesentlich wahrscheinlicher als heute. Doch auch ein heutiger Mensch kann nicht vorhersehen, wann er stirbt. So fühlen wir uns in den seltensten Fällen ausreichend vorbereitet, wenn die Diagnose einer voraussichtlich tödlichen Krankheit gestellt wird. Im Sinne einer modernen Kunst des Lebens und des Sterbens lohnt es sich also, sich mit folgenden Aspekten zu befassen.

Wie soll Ihr Leben zum Zeitpunkt Ihres Todes aussehen?

  • Falls Sie viel früher sterben, als Sie es im Moment für wahrscheinlich halten: Was würden Sie in Ihrem Leben jetzt verändern, um es dem ähnlicher zu machen, wie es zum Zeitpunkt Ihres Todes aussehen soll?
  • In welchem Geisteszustand möchten Sie sein, wenn Sie sterben?
  • Wie oft erleben Sie diesen angestrebten Geisteszustand jetzt?
  • Was könnten Sie tun, um öfter in dem Geisteszustand zu sein, in dem Sie sterben wollen?

Da niemand von uns weiß, wann er wirklich sterben wird: Was könnten Sie tun, um beständig im beschriebenen Geisteszustand zu sein, um so jederzeit vorbereitet zu sein? Offensichtlich hat der Kaiser in dem Märchen „Die Nachtigall“ von Hans Christian Andersen nicht rechtzeitig die Gelegenheit gehabt, mit diesen Fragen zu arbeiten:

„Der arme Kaiser konnte kaum atmen, es war ihm, als säße etwas Schweres auf seiner Brust. Er schlug die Augen auf, und da sah er den Tod sitzen. Der Tod hatte sich die Kaiserkrone aufgesetzt und hielt in der einen Hand den goldenen Säbel des Kaisers und in der anderen die kaiserliche Fahne. Aus den Falten der Vorhänge aber schauten den Kaiser seltsame Gesichter an, die einen häßlich, die anderen lieblich und zart. Das waren des Kaisers gute und böse Taten, die ihn jetzt, da der Tod auf seinem Herzen saß, mahnten. ,Weißt du noch?' flüsterte eine nach der anderen. ,Erinnerst du dich?' Und sie erzählten und erzählten, daß dem Kaiser der Schweiß auf die Stirn trat.“

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