Frustrationstoleranz

Woher kommt die Altersweisheit?

Wir waren eingeladen zum letzten Grillabend des Sommers. Es gab Steak und Dorade. Dazu ein besonders leckeres Kartoffel-Sellerie-Mus. Im Laufe des Abends drehte die Stimmung auf...

Wir waren eingeladen zum letzten Grillabend des Sommers. Es gab Steak und Dorade. Dazu ein besonders leckeres Kartoffel-Sellerie-Mus. Im Laufe des Abends drehte die Stimmung auf Philosophie und wir sprachen über die Thesen, die der Franziskanerpater Richard Rohr in seinem neuesten Buch „Reifes Leben“ vertritt.

Ist Alter = Weisheit?

Unsere Gastgeberin brachte den Gedanken ins Spiel, der Vorteil einer alternden Gesellschaft sei, dass dadurch allmählich mehr Reife in unsere Gesellschaft hineinwachsen könne. Ich habe meine Zweifel an diesem optimistischen Gedanken, obwohl ich ihn selbst schon vor mehr als zehn Jahren als Hoffnung geäußert habe.

Es ist Rohrs Idee etwas abzugewinnen, dass für Reife eine Auseinandersetzung mit Alterungsprozessen notwendig ist. Eine wesentliche Voraussetzung von Reife ist aus meiner Sicht jedoch das Ausmaß von Frustrationstoleranz, das ein Mensch erlangt hat.

Ein neugeborenes Baby hat keinerlei Frustrationstoleranz. Es schreit, sobald es Hunger hat. Das ist eine gute und gesunde Funktion. Wenn das Kind älter wird, wird es jedoch nach und nach lernen müssen zunächst seine unmittelbaren Bedürfnisse zurückzustellen und später auch Belohnungen aufschieben zu können.

Frustration erleben lernen

Ohne Ausbau von Frustrationstoleranz ist es unmöglich langfristige Projekte zu verfolgen. Ein Studium dauert mehrere Jahre und ist voll von Prüfungen und schwierigem Stoff, der gelernt werden muss. Nur diejenigen, die sich durch diese jahrelange Frustration durcharbeiten, können am Ende ihre Master-Urkunde in der Hand halten.

Nicht anders verhält es sich mit dem Lebensende. Wir haben alle früher oder später mit dem Verfall unseres Körpers zu tun, mit allmählich ausfallenden Funktionen, mit Schmerzen und chronischen Leiden. Diese Entwicklungen sind nicht aufzuhalten und das Leben endet mit dem Tod.

„Reife ist die Fähigkeit, Frustration ohne Depression zu verarbeiten.” Henning Matthaei

Reife im Alter beinhaltet daher wesentlich auch die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, mit meinem begrenzten Einfluss auf die Welt. Sie bedeutet eine Zustimmung zum Leben, so wie es ist, mit Höhen und Tiefen, mit Erfolgen und Misserfolgen. Und dann kann sie zur Großzügigkeit werden, anderen Menschen, die noch ungeduldiger sind als ich, zur Seite zu stehen um ihre eigene Frustrationstoleranz wachsen zu lassen. So kann Reife Reife hervorbringen, wenn es uns denn gelingt, uns selbst zu lassen.

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